Was hat Therese, die Kirchenlehrerin, unter dem Gebet verstanden? Machen wir uns dazu zunächst klar, dass sie täglich in ihrem Kloster etwa sechseinhalb Stunden gebetet hat: viereinhalb Stunden das Stundengebet der Kirche, dazu jeden Tag zwei Stunden Betrachtungszeit. Was schreibt nun diese wunderbare Karmelitin, die Papst Pius XI. als die größte Heilige der Neuzeit bezeichnet hat, über das Gebet? Sie schreibt in ihrer Autobiographie, der „Geschichte einer Seele“:
„Wie groß ist doch die Macht des Gebetes! Man könnte es einer Königin vergleichen, die allezeit freien Zutritt hat beim König und alles erlangen kann, worum sie bittet. Es ist nicht nötig, ein schönes, für den entsprechenden Fall formuliertes Gebet aus einem Buch zu lesen, um Erhörung zu finden; träfe das zu… ach! Wie wär‘ ich zu bedauern!... Neben dem Breviergebet, das zu beten ich sehr unwürdig bin, habe ich nicht den Mut, mich zum Suchen schöner Gebete in Büchern zu zwingen, das macht mir Kopfweh, es gibt ihrer so viele!... Und dann ist ein jedes schöner als das andere… Ich könnte nicht alle beten, und da ich nicht weiß, welches auswählen, mache ich es wie die Kinder, die nicht lesen können, ich sage dem Lieben Gott ganz einfach, was ich ihm sagen will, ohne schöne Phrasen zu machen, und Er versteht mich immer… Für mich ist das Gebet ein Schwung des Herzens, ein einfacher Blick zum Himmel empor, ein Schrei der Dankbarkeit und der Liebe, aus der Mitte der Prüfung wie aus der Mitte der Freude; kurz, es ist etwas Großes, Übernatürliches, das mir die Seele ausweitet und mich mit Jesus vereint…“
Wie wir beim Hören dieser Worte wohl alle erkannt haben, schreibt hier eine Kinder-Seele, die das, was in ihrem kleinen Kinder-Herzen ist, dem Lieben Gott einfach sagt, und das in der Gewissheit, dass sie mit ihrem kindlichen Gebet bei ihrem so guten Gott sicher Erhörung findet. Die kleine Therese verbindet hier das Gebet also mit ihrer kindlichen Grundhaltung. Ja, gerade das Gebet ist für sie das ideale Mittel, sich mit ihrem so vielgeliebten Jesus zu verbinden, und dies von Herz zu Herz! Diese VonHerz-zu-Herz-gehende-Verbindung ist also Thereses Art zu beten! Es geht ihr weniger um auswendig gelernte Gebete (das natürlich auch), sondern vor allem darum, mit dem Herzen, also ganz nahe bei Jesus zu sein! Damit ist Therese aber auch eine echte Karmelitin; denn in der wunderbaren Spiritualität des Karmel geht es ja gerade und vor allem um das Herz.
Wenden wir uns jetzt einmal den einzelnen Aussagen der kleinen Therese über das Gebet zu. Wie wir gerade gelesen haben, ist für sie das Gebet ein Schwung des Herzens. Was heißt das? Das heißt doch: Das Gebet ist für sie etwas Lebendiges und nicht etwas Statisches, nicht etwas, das ich halt hinter mich bringen muss, das ich abarbeiten muss, das halt auch zu meinem Leben dazugehört. Nein, das Gebet ist für die kleine Therese ein Ausdruck des Innersten, der Beziehung, der Liebe zum vielgeliebten Jesus! Es ist ein Schrei aus der Mitte der Prüfung wie aus der Mitte der Freude! Wer deshalb im Sinne der kleinen Therese ein wirklicher Beter ist, der betet vor allem dann, wenn sein Gebet aus der Mitte seines Herzens kommt, wenn es von der Liebe her kommt, wenn es aus einer tiefen inneren Not oder einer tiefen inneren Freude herausschreit! Für Therese ist das Gebet nicht nur ein Gespräch zwischen zwei Menschen; das wäre ihr zu wenig, denn: das Gegenüber des Gebetes ist ihr unendlich Geliebter, Jesus, der Gott-Mensch, der Gott selbst ist! Deshalb ist es Therese zufolge auch etwas Großes, Übernatürliches, das ihr die Seele ausweitet und sie mit dem Gott-Menschen Jesus vereint. Durch das Gebet wird das Herz des Menschen nach Therese also geweitet, es verbindet den Beter mit dem unendlichen Gott, es lässt ihn teilhaben an der Unendlichkeit Gottes und weiß sich dadurch in seinen Anliegen erhört, getröstet, geborgen. Durch das Gebet wird die Seele des Menschen schließlich mit Jesus sogar vereint, es ist wie ein inniges Verbundensein mit der Liebe Gottes.
Die Art, wie die kleine Therese betet, ist also die eines Kindes, das durch seine kindliche Weise immer Zugang zum Herzen des himmlischen "Papas" hat; es ist ein einfaches Beten, das einfach sagt, was in seinem kindlichen Herzen ist, und das der Vater im Himmel versteht. Mehr braucht es also Therese zufolge gar nicht: sage deinem himmlischen "Papa" einfach nur, was dich bedrückt, was dich freut, was dich im Herzen bewegt, sage es ihm, bevor du es einem Menschen sagst, denn: Der himmlische Vater kann dich viel besser trösten, dir viel besser zuhören, dich viel besser verstehen als der beste Mensch es jemals kann. Ja, sage es ihm, und du wirst dich in deinem Herzen gestärkt, getröstet, geliebt und geborgen fühlen.
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